Unbemerkte epileptische Anfälle als Grund für nachlassende Leistungen im Gymnasium?

Seit einigen Jahren bemerkt eine Jugendliche Wahrnehmungsstörungen und erscheint für Mitschüler teils über Stunden «abwesend».

Vorgeschichte

Der Beginn der Symptomatik ist etwas unscharf. Die Beschwerden haben sich jedoch in den letzten Jahren deutlich verstärkt, sodass ihre vormals sehr guten Leistungen in der 5. Klasse des Langzeitgymnasiums nachgelassen haben. In den letzten 2-3 Jahren fallen Konzentrationsstörungen auf, sie werde in der Schule oft danach gefragt, ob sie richtig zuhören würde.

Auch kommen teilweise lange «Abwesenheiten» vor, sodass sie auf die Mitschüler «wie auf Drogen» wirke und sich an nichts erinnern könne. Derartige längere Störungen hätten sich ca. fünf Mal ereignet, gehäuft am ersten Tag eines neuen Schuljahres, zuletzt aber auch im Schwimmtraining.

Ihre Eltern würden teilweise ein leichtes Blinzeln mit den Augen sehen. Typische epileptische Anfälle hätte sie nie gehabt. Sie treibe regelmässig Sport und lebe sehr gesund. Die Familiengeschichte ist betreffend Epilepsie unauffällig.

Klinische Untersuchung

Die detaillierte neurologische Untersuchung ist normal.

Zusatzuntersuchungen

Das MRI des Kopfes fällt ebenfalls normal aus. Im Standard-Elektroencephalogramm (EEG) zeigt sich ein altersentsprechender Grundrhythmus mit jedoch generalisierten epilepsietypischen Entladungen in Form einzelner oder gruppierter 3-4/s Spike-wave-Komplexe mit einer Dauer von 2-3 Sekunden während und nach Hyperventilation, ohne dass die Patientin von aussen beobachtbare Auffälligkeiten zeigte. Es finden sich keine fokalen Verlangsamungen oder eine Fotosensibilität.

EEG bei juveniler Absence-Epilepsie während Hyperventilation
Abbildung 1: Gruppierte 3-4/s Spike-wave-Aktivität während Hyperventilation
EEG beijuveniler Absence-Epilepsie nach der Hyperventilation
Abbildung 2: Einzelne Spike-wave-Komplexe nach der Hyperventilation

Diagnose

Bei oben genannter Vorgeschichte, normalem MRI des Kopfes und den typischen genannten EEG-Veränderungen stellen wir die Diagnose einer juvenilen Absence-Epilepsie.

Therapie

In Beisein der Eltern empfehlen wir eine antiepileptische Therapie. Von den Erstlinien-Antiepileptika fällt die Entscheidung auf Lamotrigin, welches langsam eindosiert wird.

Verlauf

Wenige Wochen nach Beginn der antiepileptischen Behandlung, bei einer noch niedrigen Dosis von Lamotrigin (50-0-25 mg), nehmen die Eltern der Patientin mit unserer Abteilung Kontakt auf. Sie informieren uns, dass die Patientin am Vortag nach Ausgang und Übernachtung bei einer Freundin den ganzen Tag unterwegs und auf dem Mobiltelefon nicht erreichbar gewesen sei. Zudem sei sie mehrfach in einen falschen Zug eingestiegen und habe sich während des Tages verschiedenen Familien im Freien angeschlossen, bevor sie schliesslich von der eigenen Familie am Abend an einem Bahnhof wieder gefunden worden sei.

Bei Verdacht auf einen Absence-Status erfolgt durch unsere Abteilung eine Kontaktaufnahme mit der Klinik für Kinder und Jugendliche der Schweizerischen Epilepsieklinik.

Im dortigen Notfall-EEG finden sich die oben beschriebenen EEG-Veränderungen ohne Anhalt für das Fortbestehen eines Absence-Status. Als Add-on zu Lamotrigin, das sich in der Aufdosierung befindet, wird vorübergehend niedrigdosiertes Clobazam verordnet. Danach erfolgte ein stationäres Video-EEG-Monitoring über 48 Stunden ohne Aufzeichnung patiententypischer Ereignisse. Therapeutisch wird die Steigerung von Lamotrigin zunächst bis 200 mg/d, bei fehlender Anfallsfreiheit bis 350 mg/d am Tag verfolgt. In der Folge reduzieren sich die patiententypischen Ereignisse in einem gewissen Umfang.

Dennoch zeigen sich die schulischen Leistungen im Vergleich zum Schuljahresbeginn vorerst noch deutlich schlechter, insbesondere die Prüfungs-Ergebnisse, was aus Sicht der Patientin auf ein psychologisches Problem zurückzuführen sei. Deshalb wird der Patientin die Möglichkeit einer psychologischen Begleitung angeboten. Bei noch aktiver Epilepsie wird zudem in der Schule ein Nachteilsausgleich beantragt.

Kommentar

Die juvenile Absencen-Epilepsie ist eine häufiges generalisiertes Epilepsie-Syndrom mit einem Beginn zwischen dem 9. und 15. Lebensjahr. Für die Erkrankung typisch sind abrupte Bewusstseinsstörungen von 5 bis 20 Sekunden Dauer, welche in der Regel nicht täglich auftreten und oft nicht bemerkt werden. Während einer Absence besteht keine Reaktion auf Ansprache. Zu beobachten sind ein starrer Blick, halb geöffnete Lider, angehobene Bulbi, eventuell zeigen sich leichte Lidmyoklonien. Für den Patienten besteht Amnesie für den Zeitraum des Anfalls. Generalisierte tonisch-klonische Anfälle kommen bei 80 % der Patienten vor. Darüber hinaus sind die Betroffenen gefährdet, einen Absence-Status zu erleiden, welcher definiert ist als eine Veränderung des Bewusstseins oder des Verhaltens einer Dauer von mehr als 30 Minuten mit generalisierten Entladungen im EEG.

Die Diagnose wird bei ansonsten gesunden Kindern und Jugendlichen anhand von typischer Anamnese und EEG-Befund gestellt. Die Durchführung eines MRI des Kopfes ist nicht zwingend erforderlich, da kein pathologischer Befund zu erwarten ist. Im EEG findet sich 3.5-4.5/s Spike-wave-Aktivität. Zur antiepileptischen Erstlinien-Therapie gehören Valproinsäure, Ethosuximid und Lamotrigin. Bei Mädchen muss bei der Wahl der Medikamente ein mögliches Risiko der Teratogenität berücksichtigt werden. Die Behandlungsdauer beträgt mehrere Jahre bis ein Leben lang. Bei einem Grossteil der Patienten ist die medikamentöse Anfallskontrolle gut, bei einem Teil der Patienten persistieren jedoch Aufmerksamkeitsdefizite. Es besteht eine erhöhte Prävalenz von psychiatrischen Erkrankungen (vor allem Depression, Angsterkrankungen) bei Epilepsiepatienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Diese muss von reaktiven psychischen Veränderungen oder möglichen medikamentösen Nebenwirkungen abgegrenzt werden, was im Rahmen einer psychiatrisch-psychologischen Evaluation geschieht.

Wie sich die schulischen Leistungen nach Durchführung und Etablierung der Therapie bei unserer Patientin entwickeln, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sollte die Epilepsie-Erkrankung, die diese Patienten ein Leben lang begleiten wird, bei der Berufswahl unbedingt berücksichtigt werden.

 

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